23. Januar 2025

U - UBUNTU

Nenad Čupić
Foto: Maximilian Gödecke

Nenad betritt den Klassenraum. Die Schüler:innen, die ihm als „nicht so leicht” angekündigt wurden, blicken ihn erwartungslos an. Für Nenad sind das gute Voraussetzungen. Wenn keiner wirklich Bock hat, sollte man offen damit umgehen. Er weckt die Schläfrigen vor ihm auf: „Sagt mir mal - auf einer Skala von 1-10 - wieviel Bock habt ihr ganz ehrlich hierauf?“. Sein Ziel ist es, diejenigen, die am Anfang bei Null waren, auf eine Eins zu bekommen. Wenn etwas Zeit vergangen ist, kommt es schon mal vor, dass jemand mit einer anfänglichen Null mittendrin ruft: „Fünf! Ich bin jetzt schon bei Fünf“.

Klassismus, Rassismus und Kolonialismus. Das sind die Schwerpunktthemen die Nenad beschäftigen und durch die er die Teilnehmenden seiner Workshops begleiten will. Diese Probleme kamen ihm näher, während er in der Entwicklungszusammenarbeit in Uganda tätig war. Als ihm die Diskriminierungsformen innerhalb der Hilfsstrukturen immer deutlicher wurden, begann er zu verstehen, dass Entwicklungshilfe durchaus problematisch sein kann und eigentlich Wiedergutmachung heißen müsste. Diese und ähnliche Reflexionen zogen in dieser Zeit durch die Vereine und Organisationen wie erhellende und zugleich brennende Lichtstrahlen. Nenad selber erkannte nun auch eigene Erfahrungen mit Klassismus und Rassismus an. Er erinnert sich, wie ihm damals auffiel: „Mein Kumpel Clemens hat früher andere Erfahrungen gemacht als ich“.

Foto: Maximilian Gödecke

Wenn mit jedem Menschen, mit jedem paar Augen und jedem Herzen, verschiedene Erfahrungen einhergehen, inwieweit kann man dann entstehende Gefühle von Teilnehmenden einer Gruppe auffangen? Und welche Verantwortung hat man, wenn man mit diesen Themen arbeitet?

Eine bewegende Bedeutsamkeit findet sich in der Erkenntnis, dass diese Themen alle Menschen einschließen und nicht nur diejenigen, die direkt davon betroffen scheinen. “Wenn irgendwo Ungerechtigkeit passiert, ist es als würde es überall passieren. Der Menschen ist durch den Menschen für den Menschen da”. Nenads Augen glänzen.

Er beschreibt Klassismus als Empathielücke, wobei der Mangel an Empathie strukturell sei. In diesem Erklärungsversuch stehen politische Bildungsarbeit und Aktivismus im Zusammenhang mit etwas, dass er Liebe nennt. Diese sieht er als Fähigkeit, als Kunstfertigkeit an, die unsere Gesellschaft strukturiert. Das macht Liebe zur Haltung: “Jede:r trägt einen guten Samen in sich, der Entwicklung birgt”. Diesen Samen wachsen zu lassen, ist Ziel seiner Arbeit.

Diese Form von Liebe bekommt deshalb auch Platz in seinen Workshops. Denn als Fertigkeit kann sie trainiert werden. Sein Versuch, Menschen in seiner Arbeit auch auf einer emotional-innerlichen Ebene zu berühren, kann teilweise an therapeutische Prozesse stoßen. Deshalb steht seine eigene Gefühlswelt dabei oft auf der Probe. Und manchmal überwiegt die Verzweiflung - angesichts verletzender Handlungen Teilnehmender und angesichts der Tatsache, dass seine Arbeit so sehr in die Welt eingebettet ist. Außerdem ist sinnorientierte Arbeit ins persönliche Leben eingewebt und dadurch an die eigene Person gekoppelt. Das erfordert viel Selbstreflexion, in der Glaubensmuster überdacht werden müssen. Er beschreibt diese persönliche Arbeit als Kompostierung innerer Anteile.

Foto: Maximilian Gödecke

Dennoch: Nenads sinnorientierte Arbeit hat Dankbarkeit an die Stelle von Trauer gestoßen. Dankbarkeit darüber, dass Menschen sich freiwillig mit den teilweise komplexen und aufbrechenden Themen auseinandersetzen. Dankbarkeit für die Offenheit und Freude, die dabei entstehen kann. Es ist eine feingliedrige Arbeit, deren Wirkungsgrad nicht immer so leicht zu ermitteln ist. Doch es gibt kein höheres Ziel als den Lernprozess selbst.

Denn dabei zieht Bewusstsein, eine höhere Sensibilisierung, in die Menschen. Gleich der Ubuntu-Philosophie, einer Lebensphilosophie, die vor allem in südlichen Teilen des afrikanischen Kontinents praktiziert wird, gilt dieses Bewusstsein der Tatsache, dass wir als Einzelne Teil des Ganzen sind. Dieser Erkenntnis leitet sich eine Verantwortung des Individuums innerhalb seiner Gemeinschaft ab. 

Nenad verdeutlicht diese systemische Haltung anhand des Tees, der vor ihm steht. Alle Bestandteile der Teemischung im Beutel tragen zur Wirkung des Tees bei, wobei jeder Bestandteil aus einem anderen Ort, aus anderen Umständen und Zusammenhängen kommt und von diesen geprägt ist. 

Diese Haltung liegt seiner Arbeit zu Grunde. An einem Themenbereich hängen die anderen an, sie können nicht separiert betrachtet werden. Das ist der Grund warum Nenad vor die Klasse tritt und jede:n Einzelne:n erreichen will. Sie sind alle Teil des Systems. Sie alle, wir alle, tragen zur Wirkung bei.

Foto: Maximillian Gödecke

Text: Anika Krbetschek
Fotos: Maximillian Gödecke


Zum Projekt

Auf dem Weg zu einer progressiven Beziehungskultur braucht es Netzwerke. Um diese zu ermöglichen, bringt das Projekt, das gemeinsam mit dem Fotografen Maximilian Gödecke und dem Grenzen sind relativ e.V. entstand, künstlerische Porträts von Organisationen und Akteur:innen aus sozialen, kulturellen und politischen Bereichen in einem alphabetischen Format zusammen. Zwischen Texten und Fotos webt sich ein Netz von A-Z, das von gemeinsamen Werten und Visionen getragen wird. Das Engagement der Porträtierten, ihre gesellschaftliche Relevanz, progressive Ideen sind eingebettet in interne Prozesse und externe Herausforderungen. Das Portrait-Projekt soll 2023 in Form eines Kunstmagazins und einer umfangreichen, interdisziplinären (Wander-)Ausstellung, welche die Akteur:innen hinter den Porträts in Echtzeit zusammenbringt, gezeigt werden. Diese können durch eigene künstlerische Beiträge wie Lesungen, Performances und mehr zu Mitgestaltern der Ausstellung(en) werden. Zu den bisher portraitierten Projekten zählen „interfemme“, Künstler:innen des „Thikwa“-Ateliers, „Omas gegen Rechts“, „discovering hands“, „Ick mach Welle!“, „Rap For Refugees, „Brand New Bundestag“, „UN-Label“, „Tourettes Hero“, „Ohrenkuss“ und viele mehr.


Hinweis zur Erstveröffentlichung:

Dieser Text erschien zuerst im Jahr 2022 im Rahmen des Portrait-Projektes: grenzenlos vernetzt von a-z 

Quelle: https://anikakrb.com/u-ubuntu/ 

Weitere Artikel

Klatschen ist politisch

Artikel lesen

Ich, ein*e Transformer*in

Artikel lesen

Alle Artikel

crossmenu