2. März 2025

Klatschen ist politisch

Nenad Čupić
Ein Foto von einem roten Vorhang, hinter dem eine Frau in weißem Kleid hervorschaut
Foto: pexels.com / cottonbro

Kulturinstitutionen sind auf unterschiedliche Arten klassistisch. Was sie daran konkret ändern können und wie sich klassistisch Diskriminierte dennoch empowern können, erklärt Nenad Čupić im Gespräch mit Eva Tepest.


Eva Tepest: Klassismus in Kulturinstitutionen sagt vielen vielleicht noch nichts. Was bedeutet das für dich?

Nenad Čupić: Mein Verständnis von Klasse ist deutlich breiter und umfassender, als Klasse allgemein oft verstanden wird. In Anlehnung an Autor*innen und Intellektuelle wie bell hooks, Anja Meulenbelt, Pierre Bourdieu, Annie Ernaux, Didier Eribon, Rita Mae Brown, und Aladin El-Mafaalani, die ich zur klassimuskritischen Theorie zähle, verstehe ich Klasse nämlich sowohl als sozial-ökonomische Position innerhalb einer Gesellschaft, als auch als soziales und kulturelles Verhalten. Es geht also um das, was Pierre Bourdieu „Habitus“ genannt hat.

Klassismus in Kulturinstitutionen zeigt sich in der Publikumsansprache und -arbeit in Programmheften, auf den Websites oder den Social-Media-Kanälen. Diese setzen oft ein akademisches Wissen sowie eine bildungsbürgerliche Sprache voraus. Allgemein ist das Wissen, die Sprache und Bildsprache, derer sich die Kulturinstitutionen bedienen, auch stark (west)europäisch und US-amerikanisch geprägt. Das schließt viele Menschen aus. Ebenso wie die Sprache, die ich nun zur Beantwortung deiner Frage verwende, klassistische Ausschlüsse produziert. Klassistische Publikumsansprache und -arbeit zeigt sich auch, wenn beim Marketing und Besucher*innenservice ein starker Fokus auf Menschen gelegt wird, die sich hohe Eintrittspreise leisten können (oft Abo-Kund*innen) und zugleich ermäßigte Eintrittspreise oder eintrittspreisfreie Angebote nur zaghaft und undeutlich nach außen kommuniziert werden. Arme Menschen und Menschen aus der Arbeiter*innenklasse können sich regelmäßige Besuche von Kultureinrichtungen auf Grund der Preise schlichtweg nicht leisten. 

Klassismus in der Einstellungs- und Personalpolitik ist, wenn bei der Einstellung des künstlerischen und wissenschaftlichen Personals vornehmlich darauf geachtet wird, dass Menschen von (angesehenen) Häusern, Universitäten oder Hochschulen kommen, gute Kritiken oder Preise mitbringen und sie es sich leisten konnten, eine teure Ausbildung zu finanzieren und viele schlecht oder unbezahlte Praktika und Arbeit zu machen. Bewerber*innen, die (finanziell) in der Lage sind, schlecht bezahlte oder unbezahlte Hospitanzen, Assistenzen oder Praktika zu machen und nicht selten zu Arbeitszeiten zu arbeiten, die für Eltern äußerst ungünstig sind, können wertvolle Erfahrungen sammeln und Kontakte knüpfen. Indem die ungleichen Chancen und Startbedingungen im Bewerbungs- und Auswahlprozess selten bis nie berücksichtigt werden, werden ökonomisch arme Menschen und Menschen aus der Arbeiter*innenklasse klar benachteiligt. Wenn wir in die Führungs- und Leitungsebenen der Kulturinstitutionen schauen und dort nur oder hauptsächlich Menschen wiederfinden, die aus einem Künstler*innen- oder Akademiker*innenhaushalt, aus dem Bildungsbürger*innentum oder mindestens der mittleren Mittelklasse kommen, dann ist das ein weiteres Indiz für Klassismus. 

Klassistische Programmgestaltung drückt sich in Programminhalten aus, die überwiegend die Lebensverhältnisse, die Lebensrealitäten, die Themen, die ästhetischen Maßstäbe und die Sprache des Bildungsbürger*innentums und der oberen Klassen zeigen. Hinzu kommt, dass Menschen aus der Arbeiter*innenklasse oder ökonomisch arme Menschen in klassistischer Manier häufig als „bildungs- oder kulturfern“ und „uninteressiert“ an der sogenannten „Hochkultur“ imaginiert werden. Daraus wird dann der klassistische Fehlschluss gezogen, dass für sie keine „Hochkultur“ produziert werden müsse, da sie „Kitsch“, „billige“ Unterhaltung und volkstümliche Kultur favorisieren würden.  

Klassismus drückt sich also in der Trennung von Hochkultur, Subkultur und Soziokultur aus. Die klassistische Dominanzkultur setzt die sozialen Normen, Verhaltensregeln und Codes. Eine Klassismus stabilisierende Norm äußert sich beispielsweise darin, dass hierzulande das Sprechen über Einkommen und Vermögen tabuisiert ist, was sich auch in dem Sprichwort zeigt: Über Geld spricht mensch nicht, sondern hat es oder eben nicht. Ich habe unzählige Male erlebt, wie Menschen, die wenig Einkommen haben und über wenig oder gar kein Vermögen verfügen, sehr selbstverständlich, von sich aus, konkret und genau darüber sprechen, während Menschen, die wohlhabender oder (sehr) reich sind, selbst auf gezielte Nachfrage nicht klar und deutlich über ihr Einkommen und Vermögen sprechen. Teilweise können sie gar nicht genau beziffern, wie wohlhabend oder reich sie sind. Das gilt auch für Menschen in Kulturinstitutionen und ihre Gagen, Honorare und Gehälter. 

Je reicher Menschen sind, desto privater ist ihr Einkommen und Vermögen. Je ärmer Menschen sind, desto öffentlicher und kontrollierter ist ihr Einkommen, oder vielmehr ihre Schulden. Über Multimillionäre und Milliardäre gibt es in der deutschen Reichtumsforschung kaum valide Daten, während der Staat über alle Geldflüsse von Hartz-IV-Bezieher*innen Bescheid weiß.

Klassismus strukturiert auch, welche Art der Kleidung beim Besuch einer Kulturinstitution getragen, in welcher Lautstärke gesprochen wird, welche Bewegungen und Wortwahl als angemessen angesehen werden. Die klassistische Dominanzkultur regelt, wann, wo und wie ich mich in einer Ausstellung oder Aufführung hinsetze, wann ich Beifall klatsche, wie ich klatsche, wie oft und wie lange ich klatsche. Sie regelt, wie ich auszudrücken habe, wenn mir ein Kunstwerk gefällt oder eben missfällt. Sie regelt, dass im Foyer großer Kulturinstitutionen die Garderobe (gegen Bezahlung) abgegeben und Speisen und Getränke konsumiert werden, während diese meist nicht in die ‚heiligen Räume der Kunst‘ mitgenommen werden dürfen. Wenn ich mich aufgrund meines Unwissens oder meiner Armut unsicher und fremd fühle, bedingt dass, ob ich meine Unsicherheit und Unkenntnis mit einer Frage zu verringern versuche und ob ich auf Grund meiner Frage von anderen belächelt oder abschätzig beurteilt werde. Oder mich gar selbst für meine Frage und mein Verhalten schäme. Menschen mit vielen strukturellen Klassenprivilegien sind häufig sehr selbstsicher, nehmen sich selbstverständlich (verbal, zeitlich und physisch) Raum und dominieren diesen (sowohl verbal, als auch zeitlich und physisch). Sie sind besser über ihre Rechte informiert und setzen ihre Interessen häufiger und erfolgreicher durch als sozioökonomisch benachteiligte Menschen. Kurzer Exkurs auf die Makroebene: Der 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat diesen starken positiven Zusammenhang zwischen den Präferenzen der obersten Einkommensgruppe und der Wahrscheinlichkeit für den Eintritt einer Politikänderung eindrucksvoll bestätigt und damit diese systematische Ungerechtigkeit sowie Aushöhlung der Demokratie auf höchster politischer Ebene nachgewiesen.

Klassenprivilegierte Menschen erachten es als ihr Recht, dass ihnen zugehört wird, während sie anderen nicht in gleicher Weise zuhören. Sie überziehen selbstverständlicher und ungenierter die ihnen zugeteilte Redezeit und tun für gewöhnlich wenig dafür, Kommunikation und Gesprächsräume so zu gestalten, dass sozioökonomisch benachteiligte Menschen sich ermuntert und ermutigt fühlen, ihre Gesprächsräume zu nutzen, einzufordern und zu verteidigen. Sozioökonomisch bevorzugte Menschen unterbrechen andere ‚klassen- bzw. statusniedrigere‘ Menschen häufig und reagieren nicht selten empfindlich, wenn sie ihrerseits von ihnen unterbrochen werden. Das potenziert sich intersektional, wenn es sich um Männer handelt und noch mehr, wenn es sich um weiße Männer handelt. 

Klassismus in Kulturinstitutionen bedeutet mitunter für mich, dass ich eingeladen werde, um einen Vortrag zu Klassismus zu halten oder einen Workshop dazu zu leiten und von Menschen, die ihr klassistisches Herrschaftsgebaren nicht reflektieren, klassistisch behandelt werde. 


ET: Kulturinstitutionen haben oft das Selbstverständnis, liberal, links oder progressiv zu sein. Inwiefern erschwert das deine Arbeit?

NC: Das weit verbreitete Selbstverständnis der Kulturinstitutionen und ihrer Beschäftigten als liberal, links und/oder progressiv, geht oft mit der Annahme einher, mensch könne auf Grund dieses Selbstverständnisses per se nicht diskriminierend bzw. klassistisch sein. Meine persönliche Erfahrung, meine berufliche Erfahrung, die diskriminierungskritische Wissenschaft und die immer zahlreicher öffentlich gemachten Fälle von Diskriminierung widerlegen das ganz eindeutig.

Kulturinstitutionen und die darin Tätigen positionieren sich in einem imaginierten diskriminierungsfreien Raum und außerhalb eines, auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche und Menschen(gruppen) beschränkt gedachten Wirkungsfeldes von Diskriminierung. Beides gibt es nicht. Alle, die wir in dieser Gesellschaft leben, sind in das Netz der Diskriminierungsverhältnisse, eingewoben – ob wir wollen oder nicht. Der britische Psychotherapeut und Autor Farhad Dalal, kommt in seinem Buch „Race, Colour & the Processes of Racialization“ zu dem Schluss, dass sich die Strukturen der Gesellschaft in den Strukturen der Psyche widerspiegeln. Darin schreibt er, dass in einer nach „Rasse“ strukturierten Gesellschaft auch die Psyche der darin aufwachsenden und lebenden Menschen nach „Rasse“ strukturiert sei und dass folglich eine nach „Rasse“ strukturierte Psyche eine nach „Rasse“ strukturierte Gesellschaft reproduziere. In Anlehnung an Farhad Dalal kann somit, bezogen auf das Diskriminierungsverhältnis Klassismus, folgendes festgehalten werden: Eine nach Klasse strukturierte Gesellschaft, (re)produziert eine nach Klasse strukturierte Psyche und eine nach Klasse strukturierte Psyche (re)produziert eine nach Klasse strukturierte Gesellschaft. 


ET: Welche Folgen hat dieses Unbewusstsein?

NC: Die meisten Menschen, mit denen ich arbeite, haben ein viel zu verkürztes, unzureichendes Verständnis von Diskriminierung. Sie nehmen Diskriminierung nur auf der zwischenmenschlichen Ebene wahr. Wichtig ist aber, zu verstehen, dass Diskriminierung auf einer intrapersonellen, interpersonellen, strukturellen, institutionellen und einer kulturellen Ebene wirkt und dass diese Wirkung auch dann existieren kann, wenn ich oder die Institution, in der ich tätig bin, das nicht beabsichtigt. Kulturinstitutionen,Institutionen allgemein und die darin tätigen Menschen täten besser daran, in ihr Selbstbild ein umfassendes Verständnis von Diskriminierung zu integrieren. Um Diskriminierung wirkungsvoll abzubauen, ist es zunächst notwendig zu wissen und zu verstehen, was Diskriminierung ist, wo und wie sie wirkt, damit mensch sie im zweiten Schritt wahrnehmen und im dritten Schritt bearbeiten und verringern kann. Wenn Menschen wirkungsvoll und nachhaltig Diskriminierung verringern möchten, müssen sie es über den Teil ihres Denkens und Selbstbildes hinausschaffen, der ihnen weismachen möchte, dass sie und die Organisation in der sie tätig sind, diskriminierungsfrei sind. Andernfalls erschweren sie weniger mir die Arbeit, sondern viel mehr sich selbst das Lernen, eine wichtige Persönlichkeitsentwicklung sowie eine tiefe, verständnisvolle und bereichernde Interaktion mit ihren Mitmenschen.


ET: Was müssten Institutionen konkret machen, um sich strukturell zu verändern und diskriminierungskritisch zu werden? 

NC:

Bewusstsein für Klassismus steigern: 

  1. Bewusstsein für Diskriminierung(skritik) bzw. Klassismus(kritik) innerhalb der künstlerischen Ausbildung, in den Ausbildungsstätten (Schulen, Hochschulen) schaffen und steigern und die eigene Praxis macht- und diskriminierungskritisch hinterfragen.
  2. Das Sprechen über Klassismus, die eigene Klassenherkunft, die eigenen Klassenprivilegien, die Klassenunterschiede innerhalb der eigenen Institution normalisieren und Räume schaffen, in denen Menschen lernen, sich weiterentwickeln und verändern können, ohne dass dieser Lernprozess auf Kosten von Menschen mit klassistischen Diskriminierungserfahrungen geht. 
  3. Eine Befragung und Untersuchung zu Klassismus in der eigenen Institution realisieren, die von ausgewiesenen Expert*innen durchgeführt wird.
  4. Klassismuskritische Bildung: Texte, Videos zu Klassismuskritik und sozialer Ungerechtigkeit lesen bzw. schauen oder klassismuskritischen Influencer*innen folgen.
  5. Fort- und Weiterbildungen zu Klassismuskritik z.B. Anti-Klassimus-Workshops und klassismuskritische Empowerment-Workshops durchführen.

Klassistische Strukturen verändern

  1. Fördermittel an soziale und ökologische Kriterien koppeln d.h. Kulturinstitutionen konkret nachweisen lassen, wie sie Diversität, Inklusion, Nachhaltigkeit fördern.
  2. Faire Arbeitsbedingungen etablieren und durchsetzen: angemessene Vergütung, unbezahlte Praktika verbieten, branchenspezifische Honoraruntergrenzen einführen und durchsetzen.
  3. Eine diskriminierungskritische und klassismuskritische Leitlinie entwickeln und veröffentlichen, um die darin formulierten Inhalte überprüfbar zu machen. Das Festival Theaterformen hat das beispielsweise gemacht.1
  4. Berater*innen und Coach*innen engagieren, die Institutionen in der diskriminierungskritischen und diversitätsorientierten Organisationsentwicklung begleiten, anleiten, beraten und unterstützen können.
  5. Personen mit Klassismus- oder Diskriminierungserfahrung ausdrücklich ermutigen, sich zu bewerben, und sich dann auch bemühen, ein diskriminierungskritisches Arbeitsumfeld zu bieten.
  6. Menschen auch auf höhere Leitungsebenen lassen, die aus der Klasse der ökonomisch armen Menschen, der Arbeiter*innenklasse oder unteren Mittelklasse kommen, die macht- und diskriminierungskritisch agieren und somit als Vorbilder fungieren können. 
  7. Eine Anti-Diskriminierungs-Klausel oder Anti-Klassismus-Klausel in alle Verträge aufnehmen und ein Verbot klassistischer Diskriminierung in die Dienstvereinbarungen aufnehmen.
  8. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern, da ökonomisch arme und/oder einkommensbenachteiligte Menschen keine Menschen dafür bezahlen können die eigenen Kinder zu betreuen oder Haushalts- oder Beziehungsarbeit zu verrichten.
  9. Die Ressourcen, über die Institutionen verfüg und die nicht anderweitig gebraucht werden, anderen Menschen zugänglich machen, die diese Ressourcen oder den Zugang dazu nicht haben. Bei diesen Ressourcen kann es sich um Räume, Technik, Kamera, Licht, Ton, Materialien, aber auch Wissen und Kontakte handeln. Selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass diese nicht für die Verbreitung von Hass, Gewalt und Terror eingesetzt werden. 

Die Ressourcen, über die Institutionen verfüg und die nicht anderweitig gebraucht werden, anderen Menschen zugänglich machen, die diese Ressourcen oder den Zugang dazu nicht haben. Bei diesen Ressourcen kann es sich um Räume, Technik, Kamera, Licht, Ton, Materialien, aber auch Wissen und Kontakte handeln. Selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass diese nicht für die Verbreitung von Hass, Gewalt und Terror eingesetzt werden. 


ET: Im Rahmen des Fonds 360° hat die Kulturstiftung des Bundes Stellen von Diversity-Agent*innen geschaffen, die fest an Kulturinstitutionen wie Theatern stationiert sind und dort Veränderungsprozesse anstoßen sollen. Brauchen wir auch Anti-Klassismus-Agent*innen?

NC: Wir brauchen allgemein ein systemisches Verständnis von Organisationen und demnach auch Kulturinstitutionen. Organisationen und die darin tätigen Menschen und Teams sind komplexe, lebendige, dynamische, sich selbst organisierende Systeme mit Wechselwirkungen. Die meisten Menschen neigen jedoch leider dazu, Probleme in der Interaktion mit Menschen und in Organisationen mit Techniken und Methoden zu lösen, die einem linearen Ursache-Wirkungsprinz folgen. Wenn ich nun also glaube, dass Problem Klassismus mit der Schaffung von Anti-Klassismus-Agent*innenstellen zu lösen, dann mache ich es mir leicht und den Agent*innen schwer. Grundsätzlich ist die Bereitschaft nötig, institutionelle Selbstverständlichkeiten und Normen zu untersuchen und zu verändern. Es braucht ein gemeinsames und klares Verständnis davon, 1. warum, 2. wie und 3. was ich und meine Organisation tun. Es braucht eine klare Vision, Strategie und Zielformulierung. Sofern strategische Ziele formuliert werden, sind diese häufig viel zu abstrakt, ungenau und unklar definiert. Es braucht also spezifische, überprüfbare, erreichbare, aktivierende und terminierte Ziele, die im Projektmanagement als SMART-Ziele2 bezeichnet werden. Es braucht eine gut informierte, wertschätzende und kooperative Leitung(skultur), die diesen Veränderungsprozess trägt, die eine klassismuskritische Haltung authentisch vorlebt und die Belegschaft über den Prozess transparent informiert und motiviert. Es braucht innerhalb der Institution ein Team oder eine sogenannte Steuerungsgruppe, die den Prozess mitträgt und aktiv mitgestaltet. Es braucht die Offenheit, die Bereitschaft und das Mitwirken aller Menschen innerhalb der Institution die Organisationsstruktur, -abläufe und -kultur, dazu gehört die Art und Weise, wie miteinander umgegangen, kommuniziert, gearbeitet wird, mitzugestalten. Es braucht eine Übereinstimmung in Haltung und Handlung, sowie in Inhalt und Form.


ET: Jüngst sind Fälle von sexueller Belästigung, Rassismus und Machtmissbrauch an der Volksbühne in Berlin und dem Düsseldorfer Schauspielhaus publik geworden. Hat dich das überrascht?

NC: Nein. Es freut mich. Denn die Tatsache, dass in den letzten Jahren immer mehr Fälle von sexueller Belästigung, Rassismus und Machtmissbrauch öffentlich gemacht werden, sind für mich ein deutlicher Beweis dafür, dass die Arbeit der Menschen, die sich (in Deutschland) seit Jahrzehnten und teilweise seit Jahrhunderten gegen Sexismus, Rassismus, Klassismus, Kolonialismus, Unterdrückung und Diskriminierung engagieren, wirkt und immer mehr und mehr Früchte trägt. Das Bewusstsein für verschiedene Formen von Diskriminierung und auch deren Wechselwirkung wächst, sowohl bei den Diskriminierten, als auch bei den potentiell Diskrimierenden. Ich bin froh, dass es immer mehr Menschen gibt, die mutig von ihren schmerzhaften Erfahrungen berichten, sich dadurch empowern d.h. selbst ermächtigen und dass es immer mehr Medienmachende gibt, die diese Erfahrungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Das war und ist leider nicht immer so. Ich weiß, dass es viel, viel mehr Fälle von Diskriminierung, Sexismus, Rassismus, Klassismus, Ableismus und Machtmissbrauch gibt, als öffentlich gemacht wird. Ich habe häufig miterlebt, dass Menschen Angst haben, diese Fälle innerhalb ihrer Organisation anzusprechen und/oder öffentlich zu machen, weil sie um ihre berufliche, ökonomische Zukunft und teilweise auch um Ihren Aufenthalt in Deutschland bangen, weil es emotional anstrengend ist und häufig mit innerbetrieblichen und/oder juristischen Repressionen verbunden ist. Häufig sind die diskriminierungserfahrenen Menschen auch schlichtweg müde und (emotional) erschöpft davon, immer wieder auf Diskriminierung hinzuweisen, unbezahlten Nachhilfeunterricht zu geben oder unhonorierte Aufklärungsarbeit zu leisten, weil viele Angehörige der jeweiligen Dominanzkultur schlichtweg zu faul oder zu bequem sind, sich selbst zu informieren und zu bilden. Ich habe auch erlebt, dass Journalist*innen Fälle von Diskriminierung, Machtmissbrauch und skandalösen Führungsverhalten, die an sie herangetragen wurden, nicht öffentlich gemacht haben, was ich bedauerlich finde.


ET: Im Kulturbetrieb treffen Hierarchien auf unsichere Arbeitsbedingungen sowie eine große Konkurrenz. Wie können sozioökonomisch benachteiligte Menschen, also solche ohne finanzielles Back-up oder familiäres Netzwerk, dennoch empowered auftreten?

NC: Auf individueller Ebene können sie ihr Bewusstsein über Klassismus und über ihre eigenen Klassismuserfahrungen steigern, indem sie an klassismuskritischen Workshops bzw. Empowerment-Workshops für klassistisch benachteiligte Menschen teilnehmen oder sich für die Realisierung solcher Workshops an ihren Kulturinstitutionen einsetzen. Ferner können sie Literatur zu Klassismus lesen oder klassismuskritische Podcasts, Videos und Social-Media-Beiträge konsumieren. Sie können aktiv andere Menschen nach ihrer Klassenherkunft und Klassenposition, nach ihrem Einkommen, ihrem Vermögen, ihrem Umgang mit Geld, ihrem Bildungsweg fragen und proaktiv das Sprechen über Klassenverhältnisse und klassenabhängige Biografien eröffnen und normalisieren. 

Um sich von der verinnerlichten Klassenunterdrückung zu befreien und eigene Handlungsspielräume zu erweitern, kann es auch sinnvoll sein, sich mittels Büchern, Videos, Online-Kursen, Apps, Podcasts oder (Online-)Coachings Wissen und Bildung anzueignen, das in der eigenen Sozialisation bis dato nicht erworben wurde. Zum Beispiel zur Verbesserung des eigenen Kommunikations-, Entscheidungs-, Konflikt- und Verhandlungsverhaltens, zum Umgang mit Emotionen oder limitierenden Glaubenssätzen, zu gelingender Beziehungsgestaltung oder finanzieller Alphabetisierung. Manche kritisieren alles, was aus dieser Richtung kommt oder in diese Richtung geht, voreilig und undifferenziert als (neoliberale) Selbstoptimierung. Für mich ist es kein Widerspruch eine gesellschaftskritische und machtkritische Haltung zu haben und zugleich die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Das Theater der Unterdrückten zu nutzen, kann auch sehr empowernd sein.3 Indem beispielsweise Situationen klassistischer Unterdrückung (nach)gespielt werden, können diese bewusster wahrgenommen, reflektiert und analysiert und zugleich Handlungsstrategien erprobt und entwickelt werden.  

Auch eine spirituelle Praxis kann helfen. Weil ich weiß, dass in weißen, akademischen und linken Kontexten Spiritualität etwas ist, worüber selten gesprochen wird und was eher belächelt oder zynisch kritisiert wird, möchte ich darauf hinweisen, dass Spiritualität, Religiosität und Esoterik nicht das Gleiche sind. Es gibt verschiedene Wege Spiritualität zu praktizieren. Beispielsweise durch Meditation, (kollektive) Tänze, Yoga, Fasten, Gebete, Naturerfahrungen, Affirmationen, die Beschäftigung mit spirituellen Lehren und Lehrmeister*innen (in Form von Büchern, Videos, Podcasts) oder durch Übungen der Visualisierung, Achtsamkeit, Dankbarkeit oder Vergebung. Spirituelle Praxis, die im Einklang mit den eigenen Werten und einer diskriminierungkritischen Haltung steht, kann sehr empowernd sein und wirken. 

Sozioökonomisch benachteiligte Menschen können sich auch Mentor*innen oder „soziale Pat*innen“ suchen, wie Aladin El-Mafaalani es nennt. Das sind Bezugspersonen, die einem Milieu oder einer Klasse angehören, in der mensch selbst noch nicht ist und sich zugleich in diese(s) bewegen oder entwickeln möchte. Sozioökonomisch benachteiligte Menschen, die sich durch ihre (schulische und akademische) Bildung und/oder ihren Beruf mehr und mehr aus ihrem Herkunftsmilieu herausbewegen und davon entfernen, erfahren Trennung sowie Entfremdung von Familie, Freund*innen und anderen wichtigen Bezugspersonen aus ihrem Herkunftsmilieu. Sie legen enormen Fleiß, eine hohe Flexibilität sowie Lern- und Leistungsbereitschaft und starke Trennungskompetenz an den Tag. Sie vollziehen kräftezehrende Anpassungsleistungen an die neue soziale Umgebung, die ihnen allerdings die erhoffte Zugehörigkeit teilweise sehr schwer macht oder gar verwehrt. Die Mentor*innen bzw. „sozialen Pat*innen“ können bei der Bewältigung klassenmigationsbedingter Probleme und emotionalen Krisen, die auch als Identitätskrise erlebt werden können, unterstützen, motivieren, inspirieren und Zugang zu sozialen Netzwerken und anderen Lebenswelten eröffnen.4 

Auf institutioneller oder struktureller Ebene können sozioökonomisch benachteiligte Menschen Gruppen, Vereinen oder Initiativen beitreten, in denen Menschen sind, die selbst aus armen Verhältnissen oder der Arbeiter*innenklasse kommen und die sich gegen Klassismus, für Bildungsgerechtigkeit oder soziale Gerechtigkeit einsetzen. Beispiele sind Arbeiterkind e.V., das Magazin nous-konfrontative Literatur oder der Working-Class-Stammtisch von Sahar Rahimi. Sie können auch selbst Treffen initiieren oder Gruppen (via Telegramm oder Signal) gründen, um aus der individualisierten Erfahrung eine kollektive zu machen und sich (als politische Subjekte) zu organisieren. Des Weiteren können sie in Arbeitsverhältnissen die Anti-Diskriminierungs-Klausel nutzen, diese weiterentwickeln  und/oder für sich anpassen. Auch wenn in den meisten Landes­antidiskriminierungs­gesetzen der Schutz vor Diskriminierung auf Grund des Merkmals Klasse bzw. sozialer Status nicht rechtlich verankert ist, so kann es dennoch sinnvoll sein Beschwerdestellen oder Anwält*innen zu kontaktieren. Hierzu verweise ich beispielhaft auf die Anwält*innenkanzlei Laaser und die Rechtsanwältin Maryam Haschemi Yekani. In jedem Fall kann durch das Aufsuchen dieser öffentlichen Stellen ein Bedarf deutlich gemacht werden, der von diesen wiederum an die dafür zuständigen politischen Stellen weitergegeben werden kann. 

Sozioökonomisch benachteiligte Menschen können (innerhalb der eigenen Organisation) Räume und Angebote schaffen, um sich über Klassismus auszutauschen und die eigenen Denk- und Verhaltensweise sowie institutionelle Abläufe, Prozesse und Strukturen klassismuskritisch zu reflektieren und zu verändern. Diese könnten class-watch-circle, Klassismuskritischer Kreis, class conscious community oder AG Klassismuskritik heißen.

Wir brauchen außerdem öffentlichkeitswirksame Kampagnen, die klasissmusrelevante Inhalte problematisieren und sich an politische Entscheidungsträger*innen wenden. Die öffentlich gemachten Fälle von Rassismus, Sexismus und Machtmissbrauch in deutschen Kulturinstitutionen zeigen, dass das gesellschaftliche Klima günstig ist, um auch Klassismus in deutschen Kulturinstitutionen stärker in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit zu bringen. 


Hinweis zur Erstveröffentlichung:

Dieser Artikel erschien zuerst in der Publikation Faire Arbeit in Kunst und Kultur. Dokumentation der Online-Diskussionsveranstaltung am 9. März 2021, herausgegeben von der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag. Der Beitrag ist auf den Seiten 28–38 der Dokumentation zu finden. Die vollständige Publikation kann hier eingesehen werden.

Fußnoten:

  1. https://www.theaterformen.de/ueber-uns ↩︎
  2. https://blog.hubspot.de/marketing/smart-ziele ↩︎
  3. https://www.youtube.com/watch?v=xE9vzHdh9AU ↩︎
  4. PDF: Vom Arbeiterkind zum Akademiker ↩︎

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